Zensur im Netz - die "ugly content policy" von TikTok, Instagram und Co
Aktualisiert: 5. Apr. 2023
Am Anfang war der Traum. Und der Traum war farbenfroh wie eine im Sonnenlicht funkelnde Seifenblase. Der Traum war nicht neu. Hieronymos Bosch hatte ihn schon vor mehr als 500 Jahren in seinen Bildern DER GARTEN DER LÜSTE und DER AUFSTIEG DER SELIGEN verewigt. In seinen schönsten Visionen sehen wir lauter nackte Menschen, die ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihres Alters friedlich und lustvoll miteinander umhertollen und am Ende vollkommen nackt in den Himmel der Seligen aufsteigen. So war der nackte Mensch schon immer ein Symbol für den glückseligen Ur-und Endzustand des Menschen, und selbst in Boschs PARADIES AUF ERDEN sind die Menschen nackt – doch „Halt!“ (Jetzt höre ich die ersten von Euch aufschreien), „Bitte nicht! Bleibt bloß angezogen! Ich will keine hässlichen fetten Menschen sehen!“
Denn würden in der Timeline eines unserer sozialen Netzwerke Fotografien auftauchen, auf denen verschiedene Menschen ebenso arrangiert wären wie in Boschs Werken, hätte spätestens nach einer Minute irgendjemand geschrieben: „Ey, du fette Sau!“ oder „Iss mal was und mach Sport, dann kann man deinen Anblick auch ertragen“?
Warum ist das so? Warum juckt es so vielen Menschen in den Fingern, das Aussehen bewerten zu müssen, egal ob positiv oder negativ? Wenn ich zum Beispiel ein Bild von mir poste, dann tue ich das nicht, um danach zu lesen „lecker“, „geil“ oder „du bist so sexy“. Solange sie respektvoll formuliert werden, bedanke ich mich zwar ab und zu für die Komplimente, aber sie sind mir nicht wichtig. Schönheit ist vergänglich, und bei mir beugt sich die Gesichtshaut auch so langsam den Gesetzen der Schwerkraft.
Nicht falsch verstehen - ich mag meinen Körper. Manchmal finde ich meinen Körper schön, manchmal nicht. Ich muss nicht zwanghaft jeden Teil meines Körpers toll finden – trotz Bodypositivity. Er ist, wie er ist, und er trägt mich bravourös durchs Leben. Wichtig ist doch nur, dass wir uns in unseren eigenen Körpern wohl fühlen.
Neulich habe ich gelesen, dass Instagram den Account einer jungen Frau, die im Rollstuhl sitzt, ständig sperrt, weil sie dort absichtlich Fotos von ihrem nackten Körper postet – selbstverständlich mit verdeckten Nippeln und in Höschen. Sie will mit diesen Bildern unsere Sehgewohnheiten verändern, damit auch Menschen mit Behinderungen nicht ewig als „deformiert“ oder „seltsam“ wahrgenommen werden.
Aber die Videoplattform Tiktok zum Beispiel selektiert scheinbar schon im Vorfeld, welche Bilder sie ihren Nutzern zum Fraß vorsetzt und welche nicht. Videos, in denen hässliche Menschen (also laut „ugly content policy“ übergewichtige Menschen, Menschen mit Bauch, einem „hässlichen“ Gesicht oder Missbildungen) zu sehen sind, werden nicht im „for-you-Feed“ empfohlen und verschwinden damit ganz schnell in der Bedeutungslosigkeit. Inzwischen hat sich TikTok die Kritik an diesem Verfahren scheinbar zu Herzen genommen, denn zumindest ich bekomme in meinem for-you-Feed immer häufiger Videos von überwiegend jungen Frauen zu sehen, die sich selbst als dick bezeichnen und mit selbstbewussten Posen und Worten gegen ihre Hater auftreten. Vielleicht liegt das an der Vermarktbarkeit der Bodypositivity-Bewegung, die viele Produkthersteller schon vereinnahmt haben.
Leider lese ich aber auch immer wieder, dass Beiträge von dicken, schwarzen oder nicht klassisch als schön geltenden Menschen auf Facebook oder Instagram gelöscht werden oder wegen eines Verstoßes gegen die „community guidelines on nudity or sexual activity“ nicht geteilt werden können, während prominente Schönheiten mit denselben Posen und Ausschnitten sogar noch gehyped werden. Prominentes Beispiel dafür war Celeste Barber. Die australische Comedian ist inzwischen eine richtige Berühmtheit, weil sie auf Instagram die bizarren und unnatürlichen Posen von Models und Stars auf ulkige Weise nachstellt. Während ihr Bild aber nicht geteilt werden durfte, war das bei dem Foto, das ihr als Vorbild diente, kein Problem. Dieses war nämlich , wen wundert’s, vom ehemaligen Victoria’s Secret Model Candice Swanepool gepostet worden. Zensur? Hängt wohl davon ab, was der oder die Programmierer*in des Instagram-Algorithmus ästhetisch fand, würd ich sagen.
Am Anfang war der Traum….
Wenn sich nun viel mehr Menschen in den sozialen Medien nackt zeigen würde, und zwar so, wie sie sind, nicht nur als Model in schön ausgeleuchteten Fotografien, die zudem noch extrem bearbeitet werden, dann wäre Nacktheit irgendwann etwas natürliches. Dann würde vielleicht auch irgendwann das Kommentieren aufhören. Wovor haben Mark Zuckerberg und Co denn Angst? Dass es eine Nackt – Schwemme geben könnte? Einen Tsunami aus bedrohlich auf uns heranrollenden nackten Leibern, die uns mit ihrer Hässlichkeit ersticken?
Das wird erstens nicht passieren, weil sowieso nur wenige Menschen das Bedürfnis haben, sich nackt zu zeigen (-und ich bin da vollkommen undogmatisch. Leben und leben lassen). Und zweitens würde sich dadurch vielleicht auch unsere Vorstellung von dem, was wir als schön empfinden, ändern. Dann würden Jugendliche vielleicht auch nicht mehr darauf konditioniert werden, die Körper von klapperdürren Models als das Maß aller Dinge zu betrachten, sondern anfangen, ihren eigenen Körper zu akzeptieren.
Ich stelle mir einfach vor, wir würden auf Instagram und Co häufiger nackte Menschen sehen. Nackte Menschen, die essen. Die ein Buch lesen. Die spazieren gehen. Eine Utopie, ich weiß. Aber wie gesagt: am Anfang war der Traum…
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