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Schuld und Schnitzel



Schuld – ein großes Wort, überfrachtet und viel zu oft bemüht, wenn es um gesellschaftliche Auseinandersetzungen geht. Aber irgendwer muss doch an allem schuld sein, was in der Welt schiefläuft oder uns nicht passt! Oder?

Es gibt viele Gründe, warum Menschen Schuldgefühle entwickeln. An sich sind Schuldgefühle ja nicht unbedingt NUR etwas Negatives. Sie können auch ein Indikator für die eigene Empathiefähigkeit sein. Aber permanente Schuldgefühle werden irgendwann zu einer Abwehrreaktion führen, zu Trotz oder zu Aggression. Diese wird sich gegen sich selbst richten (zum Beispiel in Form von Depressionen) oder gegen diejenigen, die einem die Schuldgefühle vermitteln. Denn es gibt einen großen Unterschied zwischen dem schlechten Gewissen, das wir empfinden, weil wir uns nicht nach unseren eigenen ethischen Grundsätzen verhalten haben – und dem, welches wir vermeintlich aufgrund von gesellschaftlichen Entwicklungen haben sollten.

Man kann das heute gut in den sozialen Netzwerken beobachten. Kurz nach der durch die Fridays For Future - Bewegung aufgeflammten Debatte um den Klimawandel kam es sofort zu ersten Verteufelungen. Flugreisen, Autofahren und SUVs standen von nun an ganz oben auf der Sündenliste. Keine zwei Wochen später wurde die Facebook Gruppe „Fridays For Hubraum“ gegründet, und ich weiß nicht, ob es eine Trotzreaktion war, aber 2019, also in dem Jahr, wo Greta und die Fridays For Future-Bewegung den Klimawandel permanent in das Bewusstsein rückten, wurden in Deutschland so viele SUVs verkauft wie nie zuvor. Eine Zeitlang lieferten sich die Greta-Thunberg-Groupies und die Greta-Thunberg-Hater in den „Sozialen“ Netzwerken derart heftige Scharmützel, dass ich befürchtete, es werde bald ein Bürgerkrieg ausbrechen.


Egal, ob es ums Gendern, ums Fleisch-Essen, um mögliche #metoo-Fälle, um Klimaschutzmaßnahmen oder um feministische Themen geht: In den (a)sozialen Medien geht es sofort ums Ganze. Es gibt nur noch Schwarz oder Weiß. Man ist entweder dafür oder dagegen. Differenzierte Betrachtungen?

Fehlanzeige.


„Probier’s mal mit Gelassenheit“, würde ich am liebsten Baloo-der-Bär-mäßig singen, wenn ich jeden Tag kopfschüttelnd die weitere Lagerbildung verfolge.

Aber vielleicht muss ich einfach selbst gelassener werden. Vielleicht hilft es, sich in diesen Zeiten der guten alten Physik zuzuwenden, genauer gesagt, der „Newton-Wiege“: Wenn man eine der äußeren Kugeln in die Hand nimmt und sie auf die anderen, sich noch im Ruhezustand befindlichen Kugeln zurückfallen lässt, bewirkt der Anprall, dass die gegenüberliegende äußere Kugel abgestoßen wird und in die Luft fliegt. Durch eine gewisse Reibung werden die Bewegungen der hin- und herpendelnden Kugeln allmählich langsamer, bis sie irgendwann in der Mitte wieder zur Ruhe kommen.

Je extremer sich also die eine Seite benimmt, desto extremer wird auch die andere Seite reagieren. Schon allein aus Trotz.

Vielleicht wären die meisten Menschen sogar bereit, ihr eigenes Verhalten in bestimmten Bereichen zu überdenken – wenn sie nicht von vornherein zu moralischen Neandertalern degradiert würden, sobald sie eine andere Meinung äußern oder vielleicht einfach noch skeptisch sind.

Nicht falsch verstehen: Es ist wichtig, Diskussionen darüber anzustoßen, wo etwas in unserer Gesellschaft noch falsch läuft.

Aber Menschen sind zwiespältige Wesen. Einerseits ist es für viele sehr bequem, wenn ihnen Entscheidungen abgenommen werden. Denn dadurch ist es auch sehr leicht, andere Leute zum Sündenbock zu machen, wenn etwas nicht funktioniert.

Andererseits möchten wir uns ja auch nichts sagen und schon gar nicht verbieten lassen.

Meine Meinung ist: Wenn Menschen etwas nicht von sich aus ändern wollen, bringt es auch nicht viel, sie dazu zwingen zu wollen. Ich glaube, dass wirkliche Veränderungen nur in uns selbst entstehen können. Ändere dich selbst, und du änderst die Welt. Zumindest deine eigene.


Wie wär`s zur Abwechslung mal mit ein bisschen Trotz-Scham?


Ich habe zum Beispiel mit 14 Jahren aufgehört, Fleisch zu essen, nachdem ich mir einmal einen Massentierhaltungsbetrieb in Niedersachsen angeschaut hatte. Niemand hat mich dazu gezwungen, meine Familie und meine Freundinnen haben weiterhin Fleisch gegessen. Diese Entscheidung habe ich nie bedauert, weil es meine eigene war. Ich bin auch ganz ehrlich: Fisch habe ich weiterhin gegessen, weil Fische das Pech hatten, mich nicht mit so großen Kulleraugen anzuschauen wie die niedlichen Kühe oder die so liebenswert grunzenden Schweine.

Trotzdem habe ich nie versucht, irgendjemanden zum Fleischverzicht zu bewegen oder ein großes Theater darum zu machen. Wenn wir essen gingen, bestellte ich „Schnitzel ohne Schnitzel“, also Pommes und Gemüsebeilagen, denn Menschen, die kein Fleisch essen, waren Anfang der 90er noch sehr selten.

Eine Freundin von mir wurde dann Veganerin, und was soll ich sagen?

Der alte Witz stimmte.

„Woran erkennst du einen Veganer?“

„Er sagt es dir.“

In diesem Fall war es eine SIE, die mir ständig vorhielt, wie schlimm es sei, dass ich den Hühnern die Eier und den Kälbern die Milch wegnähme.

Nach kurzem Nachdenken entschied ich mich dazu, weiterhin Eier, Joghurt und Käse zu essen. Und ich genieße es. Es wäre ja noch schlimmer, wenn ich dabei „Käse-Scham“ oder „Eier-Scham“ empfinden würde. Denn immerhin habe ich vor dem Essen die Möglichkeit, mich für oder gegen tierische Produkte zu entscheiden und sollte dann auch bereit sein, die Konsequenzen meines Handelns zu akzeptieren. Aber ich achte darauf, dass diese Produkte von Tieren stammen, die in Freilandhaltung leben dürfen. Das geht nur, weil ich es mir annähernd leisten kann. Für viele Menschen, die jeden Euro umdrehen müssen und kaum den Schulausflug ihrer Kinder bezahlen können, sind die Preise für Produkte aus artgerechter Tierhaltung schlichtweg zu teuer. Warum sollte ich oder irgendjemand sonst ihnen deswegen Vorwürfe machen? Es wäre sinnvoller, erst einmal zu versuchen, das System zu ändern.

Das ist es, was wir beachten sollten, bevor wir andere Menschen verurteilen.

In diesem Fall hieße das: artgerechte Tierhaltung zu fördern, Landwirte also finanziell bei der Umgestaltung ihrer Betriebe zu unterstützen und Massentierhaltung dadurch abzuschaffen.


Übrigens kannte ich mal einen Mann, der nur seiner sich vegetarisch ernährenden Frau zuliebe ihre Gemüse- und Tofubratlinge aß (die im Vergleich zu den 90ern heute sogar richtig lecker schmecken).

Sobald er außer Hauses war und sich sicher wähnte, dass seine Frau ihn nicht beobachten konnte, stürmte er wie ein Wahnsinniger in den nächsten Imbiss, um sich erst einmal ein fettes Stück Fleisch reinzuziehen. Ich als Frau hätte ihm einfach sein Schnitzel gegönnt und geschaut, ob man es irgendwoher bekommen kann, wo Tiere gut gehalten werden.

Manchmal kommt es mir so vor, als würden einige Menschen aus purem Trotz gegen etwas sein, weil die andere Seite so versessen darauf ist, den moralischen Zeigefinger zu erheben.

Aber Trotz zum Grundpfeiler unserer gesellschaftlichen Entscheidungen zu machen, finde ich persönlich nicht nur kindisch, sondern auch zerstörerisch. Trotz richtet sich immer „gegen“ etwas, baut aber nichts auf.

Wie wär´s also zur Abwechslung mal mit ein bisschen Trotz-Scham? :-)


Übrigens: Das Schnitzel auf dem Foto ist natürlich ein vegetarisches Schnitzel.




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