Per - vers: Alles eine Frage der Definition
Aktualisiert: 15. Aug. 2021

Als ich im Zuge meiner Recherchen zum Thema „befreite Sexualität“ einmal zu einer gemütlichen Gesprächsrunde eines SM –Stammtisches eingeladen wurde, stellten sich einige Anwesende folgendermaßen vor: „Willkommen. Wir sind die Perversen.“ Sofort war das Eis gebrochen, ich lachte und freute mich, dass wir „Perversen“ uns mal ganz ungezwungen miteinander unterhalten konnten. Denn auch wenn es streng genommen keine klare Definition dafür gibt, was als „pervers“ gilt, so werden Exhibitionismus, Voyeurismus und Sadomasochismus im DSM (Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen) und im ICD (Internationale Klassifikation der Krankheiten (sic!)) immer noch zu den sogenannten „Paraphilien“ gerechnet, das heißt zu den sexuellen Neigungen, die deutlich von der empirischen Norm abweichen.
Meine Frage an die Wissenschaftsfraktion wäre natürlich, wann denn das letzte Mal eine wirklich empirische Studie zum Sexualverhalten der Deutschen unternommen wurde, und ob diese Studie nicht überraschende Ergebnisse offenbaren würde…. Wieviel Prozent der Deutschen wären demnach wohl „gestört“? Und was wäre mit all den definitiv exhibitionistisch und voyeuristisch veranlagten Menschen, von denen die sozialen Medien leben?
Was von der Gesellschaft als „pervers“ betrachtet wird, hat sich im Laufe der Jahrhunderte stark gewandelt. Ursprünglich war das Wort ja nicht einmal negativ gemeint. Es hieß einfach verdreht, verkehrt, und wurde noch nicht so stark wie heute fast ausschließlich in seiner sexuellen Konnotation verwendet. Galten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein noch Masturbation und Homosexualität als pervers, wird dieser Ausdruck heute eigentlich als diskriminierend empfunden und zumindest in der Psychologie nicht mehr verwendet. Umgangssprachlich sieht das natürlich anders aus: da wird gern mal alles als „pervers“ beschimpft, was mit „nicht normierten“ sexuellen Handlungen zu tun hat, selbst wenn diese Niemandem schaden.
Ganz anders in der kinky Szene: Da ist „pervers“ überhaupt kein negativ besetztes Wort mehr, eher im Gegenteil. Was natürlich nicht heißt, dass es nicht verletzend ist, wenn Menschen, die BDSM praktizieren oder irgendeinen Fetisch haben, von „Vanillas“, also von „gewöhnlichen“ Menschen, als „pervers“ beschimpft werden.
Der Ton macht wie immer die Musik.
Immerhin hat es die SM – Vereinigung Det Sorte Selskab (The black society) inzwischen geschafft, dass SM in Dänemark schon seit 1995 nicht mehr als Krankheit klassifiziert wird. In einem bemerkenswerten Brief begründete die damalige Gesundheitsministerin Yvonne Herlov Andersen ihre Entscheidung damit, dass die sexuelle Präferenz eines Menschen komplette Privatangelegenheit sei. „Die Akzeptanz von Menschen mit einer anders gearteten Sexualität hat zugenommen, und auf diesem Gebiet übernimmt Dänemark eine Vorreiterstellung.“
In Deutschland werden demnächst zumindest der Masochismus und der Fetischismus aus dem ICD – 11 herausgenommen und „eine klare Trennung zwischen einvernehmlich ausgelebten Kinks und Neigungen bzw. Paraphilien mit selbstempfundenem Leidensdruck" vollzogen, wie es ein netter junger Informatiker aus der BDSM - Szene mir gegenüber so schön formulierte.
ABER, werte Politikerinnen und Politiker - wollen wir wirklich den Dänen diese Vorreiterstellung überlassen? Wäre es nicht an der Zeit, auch die gesellschaftliche Akzeptanz nicht nur der sexuellen Orientierungen, sondern auch der verschiedensten sexuellen Neigungen zu fördern, die einvernehmlich gelebt werden? Wir leben schließlich in einem der liberalsten Länder der Welt! Und seit Klaus Wowereits erfrischendem Outing („Ich bin schwul – und das ist auch gut so“) sind auch schon wieder 20 Jahre vergangen.
Es wäre schön, wenn die eigene Sexualität eine Privatangelegenheit wäre. Aber das ist sie nicht und war sie wohl noch nie. Die Unterdrückung einer eigenständigen und emanzipierten Sexualität war schon immer ein Instrument des Machtmissbrauchs.
Umgekehrt haben die Nazis zum Beispiel die Nackerten missbraucht, um das Bild vom „reinen, starken und überlegenen Deutschen“ zu propagieren, und im Westen Deutschlands existiert zumindest der Mythos, dass die Nackerten in der DDR ihre Freikörperkultur im Kontext ihres ansonsten weniger freien Regimes als eine Errungenschaft von individueller Freiheit betrachteten. Von der sexuellen Revolution der 68er, die im Übrigen zu den ganz wenigen friedlichen Revolutionen der Weltgeschichte zählt, will ich gar nicht erst anfangen.
Allein aufgrund der Gesetzgebung hat Sexualität immer eine politische Dimension. Nicht umsonst fordern heutzutage viele Initiativen, endlich auch die sexuelle Identität im Grundgesetz, Artikel 3, zu verankern.
Die Änderung des Sexualstrafrechts 1973, nach der Homosexualität und Kuppelei nicht mehr strafbar waren, haben schließlich zu mehr Toleranz und sexueller Freiheit geführt. Werte, die wir wohl alle nicht mehr missen möchten.
Auch die Demonstrationen gegen den Paragrafen 219 a sind politisch, weil das Recht der Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung schließlich etwas mit Gleichberechtigung zu tun hat, einem der Grundpfeiler unserer Demokratie. Und jetzt bitte ich alle Menschen, die sich vor dem moralischen Verfall unserer Gesellschaft fürchten, doch bitte auf diejenigen Staaten zu schauen, in denen es KEINE sexuelle Freiheit gibt…
Mir ist es total schnuppe, welche sexuellen Praktiken Jemand ausübt, solange sie im gegenseitigen Einverständnis geschehen und niemand versucht, mich zu irgendeiner Form von Sexualität zu „bekehren“. Leben und leben lassen.
Pervers im Sinne von „verkehrt, verdreht“ ist es aber für mich, wenn die Deutschen jedes Jahr Unsummen (4,9 Milliarden Euro im Jahr 2018) für ihre Haustiere ausgeben, aber der Durchschnittspreis, den sie für ihr Schnitzel aus Massentierhaltung (0,75 qm Stallfläche für ein 110 kg schweres Mastschwein) zahlen wollen, gerade einmal bei einem Euro liegt. (bund.de)
Ich finde es pervers, wenn in Deutschland jährlich ca. 18 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeschmissen werden, aber „Containern“ als Diebstahl oder Hausfriedensbruch strafrechtlich geahndet wird. (welt.de „warum „containern“ weiter strafbar bleibt“ vom 6.6.2019)
Und für mich ist es mehr als nur pervers, wenn junge Mädchen sich mit Challenges wie „thigh Gap“ und „A4 waist – Challenge“, „Bikini – Brücke“, „Belly Button Challenge“ und „Collarbone Challenge gegenseitig dazu animieren, sich zu Tode zu hungern.
Das sind Sachen, die finde ich pervers, nicht, wenn sich erwachsene Menschen zu mehr Lust und Freude verhelfen.
Was pervers ist und nicht, entscheidet wohl die Sicht…
Danke für diesen Beitrag, was mich ebenso stört sind die 500 Euro, die ich jedes Jahr als Otto Normalbürger für unsere verschiedenen Streitkräfte bezahlen muss. Töten auf Befehl als Endpunkt zwischenmenschlicher Kommunikation, und da sage noch jemand BDSM wäre pervers?!